Szenisches Verstehen – wenn Worte nicht reichen, um zu erfahren, was vor sich geht

Szenisches Verstehen

Wie können wir psychische Prozesse verstehen, die sich „inszenieren“, d.h. vorwiegend nicht-sprachlich mitteilen?

In der Arbeit mit Patient*innen, die an frühen Störungen ihrer Persönlichkeitsentwicklung leiden, sehen wir uns als Psychotherapeut*innen oft mit dieser schwierigen Aufgabe konfrontiert.

Lesen Sie in diesem Artikel, wie sich szenisches Verstehen in der Psychotherapie verwenden lässt, um Informationen über diese seelischen Prozesse zu erhalten und zu nutzen.

Wie lassen sich Patient*innen mit frühen Störungsanteilen besser verstehen?

Während meiner Zeit als Stationsarzt einer Station, auf der junge Patient*innen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen und Psychosen behandelt wurden, erlebte ich folgende Begebenheit:

Bei Besprechungen des Stations-Teams gerieten die Mitarbeiter*innen in Streit, als es um die Behandlung eines jungen Studenten ging. Er schien das Team regelrecht zu spalten.

Einige Kolleg*innen beklagten seine ständigen Regel-Übertretungen und forderten Sanktionen.

Andere vertraten die Auffassung, dass dieser Patient der besonderen Fürsorge bedürfe und „nicht so hart angefasst“ werden solle.

Sie schienen ein besonderes Verständnis für diesen jungen Mann entwickelt zu haben. Sie warfen den „Hardlinern“ Unprofessionalität und Starrheit vor, was diese wiederum gegen sie aufbrachte.

Szenische Mitteilungen lassen sich als „Handlungsdialog“ verstehen

Erst als es uns gelang, die gesamte „Szene“ der Team-Besprechung als mögliche Auswirkung eines seelischen Prozesses dieses Patienten zu untersuchen, war es möglich, wieder miteinander zu sprechen.

Letztlich ließ sich erkennen, dass beide Parteien diesen Patienten gut verstanden, aber auf eine jeweils andere Weise:

  1. Eine Gruppe hatte das Bedürfnis des Patienten aufgenommen, umsorgt und wahrgenommen zu werden.
  2. Demgegenüber ließ sich die Ablehnung der „Sanktionierer“ als ein weiterer Teil des Patienten auffassen, mit dem er sich selbst ablehnte.

Handlungsdialoge als „Inszenierungen“ seelischer Prozesse

Bei Ereignissen, in denen ohne Worte bedeutsame Botschaften zwischen Menschen ausgetauscht werden, spricht man auch von sogenannten Handlungsdialogen. Solche „Szenen“ können uns im Kontakt mit Patient*innen etwas von deren innerer Not mitteilen.

Sie sind Ausdruck einer unzureichenden Versprachlichung, die sich besonders in Momenten hoher innerer Anspannung ereignet.

Wenn es uns mit diesem Wissen gelingt, Patient*innen dabei zu helfen, seelische Spannungen besser auszuhalten, erleichtern wir ihnen, uns später zu sagen, was sie bewegt.

Eine Technik, die uns dabei helfen kann, ist die des „szenischen Verstehens“, die vom deutschen Soziologen und Psychoanalytiker Alfred Lorenzer entwickelt wurde.

Szenisches Verstehen erfasst die Botschaft einer Handlung

Patient*innen, die an einer Einschränkung der Affektregulierung leiden, gelingt es oft nur schlecht, das in Worte zu fassen, was in ihnen vorgeht.

Um diese seelischen Zustände verstehen und auf sie eingehen zu können, bedarf es in der Arbeit mit solchen Patient*innen des systematischen, professionellen Einsatzes des szenischen Verstehens.

Szenisches Verstehen misst dem nichtsprachlichen Aspekt der Kommunikation den gleichen Stellenwert zu wie allen sprachlichen und mimisch-gestischen Mitteilungen.

Alfred Lorenzer unterscheidet hierbei

Logisches Verstehen – als Verstehen des Gesprochenen

Psychologisches Verstehen des emotionalen Beziehungsgehalts – als Verstehen des Sprechenden

Szenisches Verstehen – als Verstehen der Situation (in die der Empfänger der Mitteilung, aber auch die Umgebungsbedingungen mit einbezogen werden)

Tiefenhermeneutisches Verstehen – als Verstehen der in Szenen verborgenen Wünsche und Abwehrvorgänge.

Die andere Seite der Medaille: das Schweigen

Gelegentlich gibt es Stunden, in denen es scheinbar gar nichts zu besprechen gibt, obwohl das so gar nicht zur ansonsten eher turbulenten Arbeit mit Ihrem Patienten zu passen scheint.

Aus der Sicht des szenischen Verstehens lässt sich dieser Umstand auch als kommunikativer Ausdruck verstehen.

Auch wenn nicht gesprochen wird, kann das indirekt darauf hinweisen, dass besonders heftige, nicht auszuhaltende Affekte im Spiel sind. Sie werden in einem seelischen Abwehrprozess von dem auslösenden Ereignis oder von potentiell beunruhigenden Gedanken abgetrennt, und nicht mehr wahrgenommen.

In diesem Beitrag beschreibe ich das Phänomen eingehender anhand eines Fallbeispiels: Wie gehe ich mit schweigenden Patient*innen um?

Wie lassen sich solche Zustände identifizieren?

Wenn es in einer Behandlungsstunde in auffälliger Weise unspektakulär oder bisweilen sogar langweilig und ermüdend zugeht, dann könnten Sie versuchen, genau wahrzunehmen, welches Gefühl sich in Ihnen selbst einstellt:

  • Werden Sie unruhig, nervös, und suchen Sie verzweifelt nach etwas, das Sie mit Ihrem Patienten besprechen könnten?
  • Haben Sie gegen eine intensive Müdigkeit anzukämpfen, und fällt es Ihnen dadurch schwer, nachzudenken?
  • Schweifen Sie immer wieder mit Ihren Gedanken ab?
  • Verspüren Sie unterschwelligen Ärger oder eine unerklärliche Traurigkeit, ein anderes, unerklärliches Gefühl?

Patient*innen, die nicht über ihre inneren Verfassungen, Gefühlszustände und Wahrnehmungen sprechen können, bedienen sich eines unbewussten Mechanismus, der diese Gefühle im Gegenüber auszulösen vermag.

In der Psychotherapie verspürt z.B. nicht der Patient selbst seine Wut, sondern der Therapeut.

Wir können uns diese Form  als Ausdruck vorsprachlicher Kommunikation vorstellen, mit der schon Säuglinge ihren Müttern oder Vätern mitteilen, wie sie sich fühlen, und was sie benötigen.

Diese frühe Form der Mitteilung kann auch in späteren Lebensphasen dazu genutzt werden, sich auf nichtsprachliche Weise verständlich zu machen. Wir sprechen dabei von projektiver Identifizierung.

Wenn ich etwas in mir spüre, das nicht zu mir gehört

Zu Beginn schilderte ich ein Beispiel aus meiner Zeit als Klinikarzt. Dass mein Stations-Team damals zunächst auf so heftige Weise in Streit geriet, ließ uns vermuten, dass der Patient einen Teil seiner Gefühle offenbar gleichsam „ins Team hinein verlagert“ hatte.

Sobald das Team diese starken Emotionen bei sich selbst wahrnehmen und als Resonanz der Gefühle des Patienten besser aushalten konnte, schien sich diese Fähigkeit indirekt auch auf das Verhalten des besagten Patienten auszuwirken.

Er konnte seine Bedürfnisse nach Zuwendung besser äußern, und ging freundlicher mit sich selbst um.

Dieses Phänomen der projektiven Identifizierung zeigt sich besonders häufig in der Psychotherapie mit Patient*innen, die an frühen Störungen ihrer Persönlichkeitsentwicklung leiden.

Wie sich dieser Vorgang besser erkennen und verstehen lässt, und welchen Nutzen das für Ihre Arbeit haben kann, lesen Sie im folgenden Artikel:

Projektive Identifizierung – ein Beitrag zur psychotherapeutischen Praxis

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