Projektive Identifizierung – ein Beitrag zur psychotherapeutischen Praxis

Wenn ich etwas spüre, das nicht zu mir gehört

projektive Identifizierung

Projektive Identifizierung bezeichnet die unbewusste Neigung, innere Spannungen und Gefühlszustände, die sich (noch) nicht in Worte fassen lassen, in andere gleichsam hinein zu verlagern, beim anderen wahrzunehmen und sich mit diesen Eigenschaften im Anderen auseinanderzusetzen. Manche sagen dazu auch „projektive Identifikation“.

Sie lässt sich als Ausdruck einer entwicklungspsychologisch frühen Form der Kommunikation verstehen. Es könnte sich bei ihr um die Grundlage der Kommunikation von Säuglingen handeln, mit der diese ihre primären Bezugspersonen, zu allererst die Mutter, auf ihre innere Not, d.h. basale Angstgefühle, körperliches Unwohlsein oder Schmerzen aufmerksam machen.

Nach dem Erwerb der Sprache dominiert diese zunehmend die Kommunikation, und lässt nichtsprachliche Kommunikation in den Hintergrund treten, ohne sie jedoch zu verdrängen. Mitunter scheint es, als würden die wesentlichen Inhalte weiterhin nichtsprachlich mitgeteilt.

Projektive Identifizierung als frühe Form der Kommunikation

Menschen, denen es in ihrer frühesten Kindheit an aufmerksamer Zuwendung und Fürsorge gemangelt hat, verwenden projektive Identifizierung auch im späteren Leben wesentlich häufiger als andere, um zu kommunizieren. Wir verstehen diesen Vorgang heute auch als eine Möglichkeit, um mit „unverdauten Gefühlszuständen“ umzugehen. Aber was bedeutet das genau?

Der innere, psychische Raum als „seelischer Verdauungsapparat“

Man kann es sich so vorstellen, dass sich im Laufe der kindlichen Entwicklung die Fähigkeit entwickelt, belastende Gefühle, Stimmungen und Spannungen auszuhalten und zu verarbeiten.Zur Entwicklung dieses „inneren Halts“ benötigt das Kind die Resonanz in einer fürsorglichen Beziehung.

Zur Entwicklung dieses „inneren Halts“ benötigt das Kind die Resonanz in einer fürsorglichen Beziehung.

In dieser Beziehung werden innere Spannungs- oder Erregungszustände zunächst durch die aufmerksame Reaktion einer Bezugsperson gemildert. Ich vergleiche diese Fähigkeit mit einer Art seelischem Verdauungsapparat, der sich somit zunächst in der Beziehung, sagen wir einmal zwischen Säugling und Mutter, mehr auf der Seite der Mutter befindet.

„Verdauungsapparat“ entspricht dabei einem Bild, welches der britische Psychoanalytiker Wilfred R. Bion geprägt hat, indem er damit diese Form der seelischen Funktion illustrierte.

Spannungsregulation als psychische Funktion

Ein Mangel an einfühlsam haltenden Beziehungen verhindert, dass sich ein ausreichend aufnahmefähiger, innerer, seelischer „Raum“ ausbildet. Darunter leidet die Entwicklung der oben angesprochenen, inneren Verdauungsfunktion des Säuglings.

Dieser innere, psychische Raum dient vor allem dazu, starke Emotionen und zwiespältige Gefühle, die eine hohe, seelische Spannung erzeugen, zu verarbeiten und innerlich zu „halten“. Das ist erforderlich, um in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen reagieren können, ohne diese Spannungen nach außen zu verlagern.

Die Fähigkeit, innere Spannung auszuhalten, ist eine wichtige Grundlage für das, was wir Frustrationstoleranz nennen. Auch unser Reflexions- und Introspektionsvermögen basiert darauf. Wir lernen, abwägend zu denken und uns in uns selbst und in andere hineinzuversetzen, um die Handlungsmotive des anderen zu verstehen.

Es handelt sich dabei um einen Zustand, der aus einer Mischung von kognitiven und affektiven Prozessen besteht, mit denen wir Informationen und Wahrnehmungen aus der Aussenwelt, aber auch Reize, Phantasien und Gefühle aus der Innenwelt verarbeiten.

Zur Situation im psychotherapeutischen Alltag

In der Psychotherapie von Patienten mit schweren Störungen der Persönlichkeitsentwicklung spielt dieser frühe Kommunikationsprozess eine besondere Bedeutung.

Was ich im intensiven Kontakt mit meinen Patienten in der Behandlungsstunde als Ausdruck innerer, seelischer Spannungen wahrnehme, lässt sich unter therapeutischen Bedingungen besonders gut beobachten. Es lässt sich verstehen als eine Art direkter, emotionaler Kommunikation.

Ich habe gelernt, diesen Mitteilungen besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Sie bilden die lebensgeschichtlich frühe Grundlage für viele Phänomene, die die Psychoanalyse als Übertragung und Gegenübertragung bezeichnet.

Diese Mitteilungen entgehen unter den Alltagsbedingungen der Arbeit mit Patienten in einer Psychotherapie leicht der Aufmerksamkeit, und sind dann nur schwer erkennbar.

Wie lässt sich projektive Identifizierung erkennen?

Dann kommt es vor, dass Sie sich nach einem Kontakt mit einem Patienten vielleicht nur wie „ausgelaugt“ fühlen. Oder Sie bemerken, dass Sie besonders ungeduldig oder gereizt reagieren, obwohl Sie sich bewusst gerade um diesen Patienten besonders bemühen.

Aus solchen problematischen Begegnungen entwickeln sich häufig frustrierende Begleitungs- oder Behandlungsverläufe. Es entwickeln sich Missverständnisse, genervte Konfrontationen oder gegenseitige Enttäuschungen, die für beide Seiten sehr belastend sind.

Mit einem geschulten Sinn für diese projektiven Identifizierungen können Sie besser verstehen, warum Sie auf diese Patienten (zunächst scheinbar grundlos) aggressiv reagieren.

Sie können daraus ein vertieftes Verständnis für Ihren Patienten oder Klienten entwickeln, um solche unglücklichen Verläufe zu verhindern.

Aber zunächst ist Ihnen dieser Zusammenhang nicht klar, und Sie bekommen vielleicht nur ein schlechtes Gewissen, wenn Sie aggressiv auf Ihren Patienten reagiert haben oder sich bei Ausflüchten ertappen, um eine Konfrontation zu vermeiden.

Woher stammt das Konzept der projektiven Identifizierung?

Der Begriff der projektiven Identifizierung entstammt der psychoanalytischen Schule Melanie Kleins und ihrer Nachfolger, die sich in ihrer Arbeit besonders intensiv der Behandlung schwer kranker Patienten, z.B. mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Psychosen oder schweren narzisstischen Störungen widmen.

Melanie Klein beschrieb dieses Phänomen zunächst als einen Abwehrmechanismus, durch den schwer erträgliche Gefühlszustände in den anderen sozusagen „ausgelagert“ und dort – gleichsam als Gefühle des anderen – ent-sorgt werden.

Wilfred R. Bion, einer der bedeutsamsten Nachfolger Melanie Kleins, beschrieb dieses Phänomen dann jedoch auch als Ausdruck eines ganz normalen Mechanismus, der eben ursprünglich nur einer sehr frühen Lebensphase angehört.

Projektive Identifizierung dient primär der Kommunikation, um Seelisches, das sich (noch) nicht in Sprache fassen lässt, mitteilen zu können. Unter bestimmten Umständen wird sie auch von psychisch gesunden, erwachsenen Menschen verwendet.

Diese Form der Kommunikation geschieht unbewusst. Das bedeutet, dass auch der Betreffende zunächst nicht in der Lage ist, über sein Verhalten oder die zugrunde liegende innere Verfassung nachzudenken und sie zu verstehen.

Das Phänomen der „Projektion“ ist allgemein so bekannt und akzeptiert, dass es bereits in die Alltagskommunikation Eingang gefunden hat. Der Begriff der projektiven Identifizierung ist jedoch weitaus weniger verbreitet.

Am ehesten ist er noch Psychotherapeuten bekannt, die sich schon einmal mit dem Konzept der Borderline-Störungen von Otto F. Kernberg befasst haben.

Kernberg beschreibt, dass Patienten ihr Gegenüber in ihre innere Konflikt-Konstellation einbeziehen, um sich selbst seelisch von unerträglichen inneren Zuständen zu befreien.

Wie sich das Verständnis projektiver Identifizierung in der Psychotherapie nutzen lässt

Ich widme einen großen Teil meiner Aufmerksamkeit in der Psychotherapie den unbewussten Phänomenen. Dabei achte ich besonders auf die nonverbale Kommunikation.

Das kann Momente während der Stunden betreffen, in denen ich mich unwillkürlich ärgere, ein schlechtes Gewissen bekomme, eine unerklärliche Traurigkeit spüre oder müde werde.

Die projektive Identifizierung ist für mich dabei einer der wichtigsten Übertragungsvorgänge, auf denen dieser Austausch basiert.

Zunächst einmal muss ich mir dabei selbst bewusst werden, was da passiert, und überhaupt die Idee haben, dass das etwas mit dem Gefühl des Patienten zu tun haben könnte.

Um das herauszufinden, dient die Arbeit mit einer konkreten Stunde

  • in einer Intervisionsgruppe
  • in Ihrer Supervision
  • in einer schriftlichen Reflexion, indem Sie zum Beispiel eine Stunde protokollieren.

Achten Sie dabei vor allem auf die Stellen im Gespräch, bei denen Ihnen etwas eigentümlich vorkommt.

Diese Stellen sind wichtig, und seien sie noch so unbedeutend, unpassend, unzusammenhängend mit dem, worüber der Patient gerade spricht. Manchmal ist gerade das ein untrüglicher Hinweis darauf, das Sie einem unbewussten Phänomen wie der projektiven Identifizierung auf der Spur sind.

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