Mein*e Patient*in fragt mich im Erstgespräch nach meinem Eindruck. Ich bin mir unsicher. Wie soll ich darauf reagieren?

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Ob ich mich im Verlauf eines psychotherapeutischen Erstgesprächs bereits in der Lage fühle, Fragen meiner Patient*innen nach meinem Eindruck zu beantworten, hängt davon ab, wie sicher ich in der Technik der Diagnose- und Indikationsstellung bin, und welchen Verlauf das Erstgespräch genommen hat.

Ersteres folgt je nach therapeutischer Schule in unterschiedlicher Weise. Hier beschreibe ich vor allem die Herangehensweise tiefenpsychologisch fundierter oder analytischer Psychotherapeut*innen.

Welchen Verlauf das Gespräch jedoch nimmt, hängt nicht zuletzt vom Patienten bzw. der Patientin ab, und unserer „Passung“ im Gesprächskontakt.

Patientenfragen im psychotherapeutiscchen Erstgespräch

Warm werden miteinander

Ob wir miteinander „warm werden“, oder das Gespräch eher einen distanziert-kühlen Verlauf nimmt, bestimmt häufig, ob wir uns in unser Gegenüber einfühlen können, und einen mehrdimensionalen Eindruck davon erhalten, wie sich das Problem des/der Patienten/in bewerten lässt.

Zudem ist die Zeit in einem psychotherapeutischen Erstgespräch knapp bemessen.

50 Minuten reichen jedoch häufig aus, um sich einen ersten Eindruck davon zu verschaffen,

  • ob ein*e Patient*in an einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung leidet oder nicht
  • ob Eigen- oder Fremdmotivation für den möglichen Beginn einer Psychotherapie besteht
  • welche Vorstellung der/die Betreffende hat, woher seine/ihre Beschwerden kommen (z.B. körperlich, seelisch, sozial begründet oder umweltbedingt)
  • ob bereits eine Vorstellung davon besteht, welche Hilfe notwendig werden könnte.

Im Laufe der Zeit und mit zunehmender Erfahrung bilden Psychotherapeut*innen oft eigene Routinen für psychotherapeutische Sprechstunden aus. Dazu gehört die Aufteilung der Gesamtzeit von 50 Minuten in verschiedene Gesprächsphasen. Hier ein Beispiel:

  • 20 Minuten freies Gespräch mit offenen Fragen, die einen ersten Eindruck vom Kontakt- bzw. Beziehungsverhalten des Patienten bzw. der Patientin fördern, von dessen affektiver Schwingungsfähigkeit und  Eigenständigkeit der Behandlungsmotivation
  • 10 Minuten, die einer gezielteren Exploration zur Vervollständigung notwendiger Informationen dienen, die eine Erstdiagnose- und Indikationsstellung ermöglichen
  • 10 Minuten zur Erläuterung Ihres Eindrucks und der aus Ihrer Sicht erforderlichen Maßnahmen (Psychotherapie oder nicht, alternative Behandlungsangebote, Aufklärung über fehlende Behandlungsindikation mit Erläuterung von Selbsthilfe, Beratung und anderen Alternativangeboten)
  • 10 Minuten zur kurzen Beantwortung weiterer Fragen und zum Erstellen der individuellen Patient*inneninformation (PTV11), falls es sich um die psychotherapeutische Sprechstunde für eine*n Kassenpatient*in handelt.

In den ersten 20 Minuten bemühe ich mich, mit Hilfe meiner offenen, zunächst nicht fokussierten Aufmerksamkeit alles aufzunehmen, was für den Patienten oder die Patientin, seine bzw. ihre Problematik und eine mögliche Psychotherapie relevant sein könnte.

Dabei soll sich eine erste Gesprächs- und Beziehungsdynamik entfalten, die wichtige Hinweise auf die zu erwartende Interaktion in einem psychotherapeutischen Prozess geben kann.

Die anschließende Exploration wird bei Patient*innen, die mit einem offenen Gesprächsangebot Schwierigkeiten haben, auch schon früher als nach 20 Minuten in ein exploratives Gespräch münden.

Patientenfragen im psychotherapeutischen Erstgespräch: Erlebnisnahes Aufgreifen statt distanziertem Diagnostizieren

Fragt mich ein*e Patient*in dabei dann nach meinem Eindruck, dann antworte ich in der Regel „erlebnisnah“, indem ich zum Beispiel konkrete Äußerungen aufgreife, und diese in Richtung auf ein einfühlsames Verständnis der Not des bzw. der Betreffenden formuliere.

Ich sage zum Beispiel:

  • „Ich spüre, wie sehr Sie [dieses oder jenes] belastet, und dass Sie auf der Suche nach einer Lösung für [xy] sind. Dabei kann eine Psychotherapie wichtige Hilfestellung leisten.“
  • „Mir scheint, dass Sie sich noch unsicher fühlen, wie Sie Ihre Beschwerden einordnen sollen, wenn Sie zum Beispiel davon sprechen, dass […] Ich denke dazu, dass unser heutiges Gespräch zeigt, wie wichtig es sein wird, sich damit eingehender zu beschäftigen. Möchten Sie herausfinden, worin Ihre Schwierigkeiten gründen und wie Sie sie bewältigen könnten?“
  • „Ich kann mir schon besser vorstellen, wie es Ihnen bisher ergangen sein muss. Sie beschreiben Ihre Belastungen in einer Weise, dass ich denke, dass […]“

Sollten Sie jedoch hinsichtlich wichtiger Fragen, die in einem Erstgespräch geklärt werden können (Diagnose, Behandlungsindikation, Differentialindikation) unsicher sein, haben Sie ja durchaus die Option, direkt ein zweites Gespräch zu vereinbaren, um diese Fragen zu klären, und könnten vorschlagen, dann eingehender die Fragen Ihres Patienten bzw. Ihrer Patientin zu besprechen

Oder Sie verweisen darauf, dass zur weiteren Abklärung die Vorstellung bei einer (anderen) Fachärzt*in notwendig ist, ein psychologischer Test durchgeführt oder weitere Untersuchungen vorgenommen werden sollten, und dass nach der Durchführung weiterer Diagnostik ein weiteres Gespräch möglich ist, um diese Untersuchungen auszuwerten und daraus Empfehlungen ableiten zu können.

Weitere, mögliche Verläufe während und nach dem Erstgespräch

Mitunter spüre ich bereits in den ersten Minuten eines Gesprächs, dass ein frühes, strukturierendes Eingreifen notwendig ist. Genauso kann ich mich aber auch dazu entscheiden, den Erstkontakt nach Art eines psychoanalytischen Erstinterviews zu gestalten, bei dem ich bereits im ersten Kontakt versuche, mit möglichst freier Aufmerksamkeit sich eine Beziehung entwickeln zu lassen, die die Grundlage für eine Dynamik bildet, in der eine sogenannte „analytische Situation“ entsteht. Diese ist von der Entwicklung eines Übertragungsgeschehens geprägt, und erleichtert dadurch die Erforschung unbewusster Vorgänge, die dem Anlass des Gesprächs zugrundeliegen.

Sowohl während als auch nach der Aus- oder Weiterbildung kann es hilfreich sein, Erstgespräche mit Patient*innen in einer Supervision, Intervision oder z.B. einer Ambulanzkonferenz vorzustellen. Auch wenn noch nicht alle nötigen Informationen vorliegen, können solche Besprechungen bereits wichtige Hinweise z.B. zur Frage erbringen, ob Sie weitere Gespräche zur Klärung der Behandlungsindikation mit Blick auf eine mögliche Zusammenarbeit mit diesem Patienten bzw. dieser Patientin führen möchten.

Ein Ziel guter psychotherapeutischer Ausbildung und dabei vor allem auch eingehender Supervision ist, Patient*innen nicht nur in einem längeren psychotherapeutischen Prozess in der Bewältigung seelischer Schwierigkeiten behilflich zu sein, sondern auch, in Erstgesprächen oder einer begrenzten Zahl von Stunden Einschätzungen geben zu können, die Patient*innen dabei helfen, ihr weiteres Vorgehen zu planen, und für sie geeignete Behandlungen einleiten zu können.

Gleichzeitig ist es jedoch in aller Regel und vor allem ein Ausdruck längerer Erfahrung mit einer Vielzahl psychotherapeutischer Erstgespräche, wenn Sie in kürzerer Zeit auch in schwierigen Gesprächen mit Patient*innen ein für diese und sie selbst zufrieden stellendes Ergebnis erreichen möchten.

Verwenden Sie Tests? Schenken Sie Ihnen mehr Sicherheit?

Ich muss gestehen, dass ich immer ein etwas gestörtes Verhältnis zu Tests behalten habe.

Mitunter bewundere ich, was manche Kolleg*innen mit Hilfe dieser standardisierten Verfahren alles untersuchen können, und weiß auch, dass viele Forschungsdesigns damit versuchen, vergleichbare Ergebnisse für die Beantwortung bestimmter Fragestellungen zu erzielen.

Dann wiederum bemerke ich in Gesprächen mit „testenden“ Kolleg*innen, dass sie wie ich selbst auch gelegentlich in Ungereimtheiten enden, wenn Testergebnisse nicht die gewünschte Klarheit ergeben, oder nicht in ihren subjektiven Eindruck des Patienten bzw. der Patientin zu passen scheinen. Die Aussage der Kolleg*innen zur Verwertbarkeit solcher Testergebnisse hat mich bisher nicht davon überzeugen können, meine Vorbehalte wirklich aufzugeben.

Stattdessen habe ich mich eingehender mit teilstrukturierten Interviews wie denen im Rahmen einer OPD-Diagnostik beschäftigt. Diese „Operative Psychodynamische Diagnostik“ bietet mir für bestimmte Fragestellungen gute Anhaltspunkte.

Auch dabei neige ich jedoch dazu, dieses Instrument relativ freizügig zu verwenden, indem ich zum Beispiel die verschiedenen Achsen je nach Verlauf des Gesprächs auch erst im Nachhinein anhand meines persönlichen Eindrucks zu untersuchen beginne.

Was die im Titel angesprochene Unsicherheit betrifft, habe ich den Eindruck, dass Tests mitunter eine Sicherheit vermitteln, die sich aus ihrer Entstehungsgeschichte herleitet. Sie sind in vielfältigen Durchläufen wissenschaftlich und in der Praxis alltagstauglich erprobt worden, und sollen so belegen, dass ihre Anwendung die nötige „Stichhaltigkeit“ einer diagnostischen Einschätzung erbringt.

Doch ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass mit ihrer Verwendung ein Aspekt der zwischenmenschlichen Beziehung verloren geht, der mir in meiner Arbeit mit Patient*innen sehr wichtig ist: dabei geht es um die Unmittelbarkeit der Begegnung im Gesprächskontakt, ohne dass ich psychologische Instrumentarien, Batterien oder einen Stapel Papier bzw. einen Computer zwischen uns stellen möchte.

Sobald diese Medien jedoch bewusst oder unbewusst der Bekämpfung der Angst des bzw. der Psychotherapeuten/Psychotherapeutin dienen, werde ich immer wieder skeptisch.

Darin liegt meines Erachtens mehr eine Gefahr als eine Chance, gerade wenn es um die seelische Ebene zwischenmenschlicher Interaktion und deren diagnostische Einordnung geht.

Schließlich und endlich gibt es für mich auch einen wichtigen Aspekt der Frage, die in der Überschrift dieses Beitrags enthalten ist:

Wie lässt sich Unsicherheit besser aushalten?

Allem Anfang wohnt ein Zauber inne. Das sagt zumindest das Zitat von Hermann Hesse aus seinem Gedicht „Stufen“.

Doch für Viele bedeutet der Erstkontakt auch erst einmal, sich auf die Unsicherheit einer neuen Begegnung mit einem Menschen einzulassen, der uns mit seinen (und mitunter auch unseren) Problemen, Ängsten oder Fragen konfrontiert, und bei uns Hilfe und Antwort sucht.

Häufig verbirgt sich dieser Wunsch jedoch hinter Verhaltensweisen, die uns verstören, versteckt durch Widerstände und Abwehrmechanismen, mit denen wir von der ersten Minute der Begrüßung an berührt sind.

Auf diese Situationen werden wir in unserer Aus- und Weiterbildung mehr oder weniger gut vorbereitet. Sich dafür offen zu halten, ermöglicht uns nicht nur, mit unserer eigenen Unsicherheit besser umzugehen, sondern es erschließt uns auch wichtige diagnostische und differentialindikatorische Hinweise für die Einschätzung, mit welchem Problem wir oder ein*e andere*r Kolleg*in später in einer Psychotherapie konfrontiert sein werden.

Negative Fähigkeit meint, zwischen Unsicherheiten, Geheimnissen und Zweifeln auszuharren, ohne [mich] zu einer erregten Suche nach Fakten und Gründen drängen zu lassen.

John F. Keats, zitiert n. Wilfred R. Bion, eigene Übersetzung

Der ursprünglich literaturtheoretische Terminus der negativen Fähigkeit eignet sich nach meiner Erfahrung gut zur Beschreibung einer „besonnenen“ Haltung, die ich meinen Supervisand*innen auch für den Gesprächskontakt mit ihren Patient*innen vorschlage. Deren Entwicklung benötigt oft Zeit und führt in der Regel auch in eine intensivere Erforschung meiner selbst, meinen eigenen (unbewussten) Motiven und Gefühlen.

Wer sich mit der Entwicklung dieser Fähigkeit auseinandersetzen möchte, findet in meinem Beitrag „Zuhören hilft. Nicht-Wissen und kreative Entwicklung in der Psychotherapie“ weitere Anregungen dazu.

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