Psychotherapeutische Probleme meistern: Beispiele psychoanalytischen Denkens

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Nach Vilfredo Pareto absorbieren 20% der Probleme 80% unserer Aufmerksamkeit, unserer fachlichen Kompetenz und Zeit.

Diese so anspruchsvollen 20 % unserer Probleme entwickeln sich meistens aus unerkannten, schwierigen Prozessen und Verwicklungen, die oft mit „Bordmitteln“ nicht gelöst werden können.

20% der psychotherapeutischen Probleme rauben uns 80% der Zeit

Die nach dem Pareto-Prinzip so aufwendigen 20% lassen sich auch für unsere psychotherapeutische Arbeit identifizieren. Bedauerlicherweise betreffen sie häufig Fragestellungen, die in unseren Ausbildungen nur unzureichend gelehrt und beantwortet werden. Hier ein paar Beispiele:

  • Warum bleibt Herr A. trotz mehrmonatiger Psychotherapie selbst unter antidepressiver Medikation antriebslos und in sich gekehrt? Warum erschöpft er sich weiterhin in düsteren Phantasien? Wie lassen sich seine suizidalen Krisen verstehen, aus denen er sich nur mühsam und mit Ihrer therapeutischen Hilfe wieder herausarbeiten kann?
    Sie spüren, wie Sie unterschwellig zunehmend aggressiv auf diesen „jammernden“ Patienten reagieren.
  • Weshalb kehrt Frau F. nach gewalttätigen Übergriffen ihres Ehemanns immer wieder in die bedrohliche, häusliche Umgebung zurück?
    Enttäuscht von diesem offensichtlich selbstschädigenden Verhalten, ertappen Sie sich bei dem Urteil: „Die will sich ja gar nicht helfen lassen.“
  • Welche Hilfen braucht Familie S., die sich seit Jahren in Begleitung durch soziale Dienste und Ihre familientherapeutischen Maßnahmen befindet? Der Vater ist arbeitslos, die Mutter Alkoholikerin, ihre minderjährigen Kinder sind verhaltensauffällig.
    Als Psychotherapeutin sind Sie am Rande Ihrer Kräfte. Aus Ihrem Umfeld erfahren Sie schockiert, dass sich zwei Ihrer Kollegen offenbar immer wieder mit Alkohol und Beruhigungsmitteln „über Wasser halten“.

Nicht selten entsteht in solchen Situationen das Gefühl, sich aufzuopfern oder eine „Sisyphusarbeit“ zu leisten.

Auf der Suche nach Lösungen für diese anspruchsvollen 20% geht es oft nicht um ein „Mehr“ (an Anstrengungen, Medikamenten oder investierter Zeit) sondern darum, sich eingehende Gedanken darüber zu machen, was eigentlich los ist.

Solche Zuspitzungen in therapeutischen Beziehungskonflikten münden nicht selten in langwierigen und unbefriedigenden Behandlungsverläufen. Sie basieren oft auf unbewussten Phänomenen, die sich nur schwer erkennen lassen.

Wie lassen sich solche unbewussten Phänomene erkennen, wenn sie sich gerade dem bewussten Nachdenken entziehen?

Wie können Sie ihnen therapeutisch begegnen, sobald Sie sie identifiziert haben?

Dazu stellt die Psychoanalyse wichtige Hilfen zur Verfügung.

Unbewusste Prozesse beeinflussen unser tägliches Denken, Fühlen und Handeln

Solche Prozesse lassen sich nur indirekt erschließen, sind jedoch für das Verständnis dessen, was gerade „vor sich geht“, von großer Bedeutung.

Die Psychoanalyse bietet mit ihrem dynamischen Konzept des Unbewussten einen Zugang. Sie beantwortet Fragen, die in Psychotherapien genauso bedeutsam sind wie im Alltag. Solche Fragen könnten z.B. sein:

  • Warum ist es oft so schwer, Verluste zu betrauern, und sich von Verlorenem zu lösen?
  • Woher kommt irrationales Verhalten, das sogar selbstschädigend sein kann?
  • Wieso reagiert mein Gegenüber so aggressiv auf mich, und erklärt im nächsten Moment, dass er mich liebt?

Doch Unbewusstes ist nicht nur am Zustandekommen von Problemen beteiligt. Es findet sich auch im Problemlösungsdenken, in konstruktiven und kreativen Prozessen.

Unbewusste Phänomene schaffen Probleme, aber sie sind auch an der Lösung beteiligt

Kognitionspsychologische Untersuchungen zeigen, dass es im Verlauf kreativer Prozesse immer eine Phase gibt, in der scheinbar „nichts passiert“, bevor sich Sachverhalte verstehen und klären lassen, und neue Ideen ergeben..

Dabei stellen wir oft erstaunt fest, wie sich die Lösung einer brennenden Fragestellung wie aus dem Nichts ergibt.

Bei näherem Hinsehen erkennen wir, dass sich im Unbewussten nicht nur pathologische, sondern auch kreative Entwicklungen vollziehen. Das Problem ist nur, dass sich diese hilfreichen, unbewussten Beiträge zwar fördern, aber nicht steuern lassen.

  • Was aber wäre, wenn sich möglichst günstige Voraussetzungen dafür schaffen ließen, damit sich diese hilfreichen Beiträge des Unbewussten entwickeln, mitteilen und bewusst werden können?
  • Wie ließen sich solche günstigen Voraussetzungen schaffen?

Vom Zentrum der bewussten Aufmerksamkeit in die Peripherie des unbewussten Geschehens

In der Psychoanalyse verwenden wir die Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, um solche günstigen Voraussetzungen zu schaffen, und unbewusste Prozesse wahrzunehmen. Erst dann ist es möglich, sich an ihr Verständnis zu machen.

Ausserhalb der analytischen Situation müssen wir eine Abwandlung dieser Haltung finden. Sie muss den Alltag Ihrer Arbeitssituation berücksichtigen. Nicht jeder Psychotherapeut kann in gleicher Weise eine träumerische Verfassung erreichen, die ein Psychoanalytiker dazu nutzen kann, um eine solche Aufmerksamkeit zu erzielen.

Aber wie lässt sich das erreichen? Wie können Sie zugleich die konkreten, sichtbaren Aufgaben im Blick behalten und unbewusste Hintergründe aufnehmen, bewusst machen und für ihre Ziele nutzen?

Vergleichen Sie einmal das Denken mit dem Sehen durch das menschliche Auge. Mit dem Auge können wir sowohl auf einen Punkt in der Mitte unserer Aufmerksamkeit fokussieren, als auch mit der Peripherie des Sehens Bewegungen und Teile der Umgebung wahrnehmen.

Der Wechsel zwischen Fokussieren und „Beobachten“ der Umgebung vollzieht sich unwillkürlich.

Er ist jedoch wesentlich für ein vollständiges Blickfeld. Dieser Wechsel geschieht rasch oszillierend und ist unter anderem von Affekten wie Angst und Interesse geleitet.

Wie lässt sich Unbewusstes wahrnehmen und erkennen?

Das geschulte „Auge“ des Psychotherapeuten kann nach einiger Übung mit den Randbereichen des Sehens auf die „Bewegungen“ in der Peripherie des Unbewussten achten. Er stellt dazu sein eigenes Unbewusstes in den Dienst der Behandlungsbeziehung, hält dem Unbewussten des Patienten sozusagen sein eigenes Unbewusstes als Wahrnehmungsorgan und Resonanzraum entgegen.

Das ist das, was wir „das Freud’sche Paar“ nennen – die Kommunikation „von Unbewusst zu Unbewusst“ sozusagen.

Vor allem Gefühle bilden einen guten Hinweis auf das, was im Verborgenen, in den Randzonen der bewussten Aufmerksamkeit vor sich geht. Sie sind nicht selten Indikatoren unbewusster Prozesse, und zeigen sich im „Zwischenraum“ der Menschen, in ihren Beziehungen.

Wir können diese Hinweise nutzen, um Veränderungen, Brüche und Übergänge im Verlauf der Stunde und in den Schilderungen und Verhaltensweisen des Patienten (und in uns selbst) wahrzunehmen:

  • Was hat den Patienten gerade bewegt, einen Gedanken, den er begonnen hatte, nicht fortzuführen, und statt dessen „vom Thema abzukommen“?
  • Warum sind Sie traurig, während Ihr Patient anscheinend unbekümmert und heiter erzählt?
  • Woher kommt diese unerklärliche Müdigkeit, obwohl Sie sich vor der Stunde ausreichend ausgeruht gefühlt hatten?

Das Wahrnehmen und Anerkennung solcher „Brüche“ als möglicher Hinweise auf unbewusste Phänomene bedarf zunächst einiger Übung.

Je geübter sie im Laufe der Zeit im Wechsel zwischen fokalem und afokalem Wahrnehmen solcher Phänomene sind, desto selbstverständlicher wird sich dieser Prozess als oszillierender Wechsel zwischen Fokussieren und „Abschatten“ vollziehen.

Fertigen Sie „innere Notizen“ an

Damit haben wir zunächst einmal die Voraussetzungen dafür genannt, wie sich Unbewusstes besser wahrnehmen lässt. Vorerst müssen wir uns jedoch damit begnügen, uns „innere Notizen“ zu machen.

Die Kunst dabei ist, sich nicht zu schnell auf das Beobachtete zu stürzen, sondern es im Hinterkopf zu behalten, um es damit im weiteren Verlauf der Stunde als möglichen Hinweis auf etwas Bedeutsames zu verwenden. Wir müssen es sozusagen wieder ablegen, statt uns daran festzuhalten, und darauf vertrauen, dass es sich als Randnotiz eignet.

Damit „markieren“ wir einen Teil unserer ungerichteten Aufmerksamkeit und sensibilisieren uns für die Wahrnehmung weiterer, ähnlicher Signale, bis sich daraus ein konkreterer Hinweis ergibt, der sich zur Bildung einer Hypothese und/oder einer Intervention eignet.

Doch wie lässt es sich zum besseren Verständnis bzw. zur Bewältigung schwieriger Prozesse und gravierender psychotherapeutischer Probleme nutzen?

Wie können sie diese schwierigen 20% der Probleme daran hindern, 80% Ihrer Zeit zu beanspruchen?

Dafür eignen sich Modelle und Techniken, die sich als handliches Werkzeug für den Praxis-Alltag bewährt haben, und zugleich theoretisch gut fundiert und wissenschaftlich begründet sind, um nicht unzulässig zu vereinfachen.

Im nächsten Teil dieser Beitrags-Serie stelle ich Ihnen mit dem psychoanalytischen Tetraeder ein solches Modell vor, das sich für diese Zwecke eignet:

  • Es bietet Ihnen die Möglichkeit, das von Ihnen beobachtete Material zu ordnen
  • Danach können Sie das so geordnete Material nach bestimmten Kriterien auf seinen Bedeutungsgehalt zu untersuchen
  • Daraus lassen sich Hypothesen bilden, die Sie für klärende Interventionen nutzen können.

So kommen Sie mit Ihrem Patienten darüber (wieder) ins Gespräch.

3 Gedanken zu „Psychotherapeutische Probleme meistern: Beispiele psychoanalytischen Denkens“

  1. ich dachte immer, dass pareto dieses prinzip vor allem für den wirtschaftlichen bereich entwickelt hat – freud hat viele anleihen genommen, bis hin zu den begriffen einer „psychoökonomie“, von entleihen aus er physik und der errungenschaften der industriellen revolution ganz zu schweigen; was im grunde aber auch nicht unverständlich ist, wenn konzepte herangezogen werden, die eine erklärung versprechen, im grunde aber auf einem völlig anderen hintergrund basieren und damit gar nicht heranziehbar sind – sie bringen keine neue erklärung als vielmehr etwas imgainatives (im sinne lacans) – insofern bin ich mit den verwurstelungen und anleihen bei anderen disziplinen immer ein bissl vorsichtig, ohne ein interdisziplinäres verstehen auszulassen. um es auf den punkt zu bringen – ich begrüße an der psychoanalyse vor allem die 80%, weniger das 20%-ziel einer vermeintlichen ergiebigkeit – die psychoanalyse ist eine kultur der langsamkeit, der qualität und tiefe – ich glaube, das rechtfertigt die 80% allemal und verweigere mich einem höchstmaß an output im verhältnis zum aufwand, gruss aus graz, gm

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