Psychotherapeutische Sprechstunde und Richtlinien-Reform

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Mit der in 2017 umgesetzten Änderung der Psychotherapie-Richtlinie führte der Gesetzgeber eine verpflichtende psychotherapeutische Sprechstunde ein.

Dieser Beitrag erklärt Ziel und Inhalt, Umfang und Ablauf.

In aller Kürze: die Fakten

Nach der Psychotherapie-Richtlinie müssen alle Vertrags-Psychotherapeut*innen Sprechstunden vorhalten – entweder als offene oder Termin-Sprechstunden.

Mit einem vollen Kassensitz haben Sie pro Woche mindestens 100 Minuten für Sprechstunden zur Verfügung zu stellen, bei hälftigem Versorgungsauftrag mindestens 50.

Die Teilnahme an diesen Sprechstunden ist auch für Patient*innen verpflichtend, bevor sie eine Richtlinien-Psychotherapie oder eine Akutbehandlung beginnen möchten.

Einzige Ausnahme ist eine voran gegangene stationäre Krankenhausbehandlung oder eine Reha-Behandlung. Diese muss mit einer der in §26 der Psychotherapie-Richtlinie definierten Diagnosen beendet worden sein, die auch die Indikation für eine Richtlinien-Psychotherapie begründen.

Maximal können 150 min. pro Patient und Krankheitsfall (Der Krankheitsfall umfasst die Behandlung derselben Erkrankung innerhalb eines Jahres, genauer innerhalb des Quartals und der drei darauf folgenden Quartale) angeboten werden.

Bei Kinder und Jugendlichen sind es 250 min.

Die Sprechstunden können in 25 min. – oder 50 min.-Einheiten erfolgen.

Am Ende der Sprechstunde erhält der Patient ein allgemeines Informationsblatt über Psychotherapie (Formular PTV 10). Ergänzend händigen Sie ihm eine eine individuelle Patienteninformation mit Beurteilung bzgl. Diagnose und erforderlichen Maßnahmen (Formular PTV11) aus. Beide Formulare finden Sie als pdf-Ansicht weiter unten.

Doch nun zur eingehenden Diskussion der psychotherapeutischen Sprechstunde im Kontext der ambulanten Psychotherapie

Psychotherapeutische Sprechstunde als diagnostisch-therapeutisches Erstgespräch

Nach den zuvor gültigen Psychotherapie-Richtlinien konnten Sie bereits diagnostisch-therapeutische Erstgespräche durchführen. Sie waren (und sind) Teil der psychotherapeutischen Grundversorgung. Diese Gespräche konnten Sie in Form von psychotherapeutischen Gesprächen oder von probatorischen Sitzungen abrechnen.

Eine probatorische Sitzung dient jedoch bereits der Klärung von Notwendigkeit und Durchführbarkeit einer Richtlinien-Psychotherapie, bei der auch „die Chemie“ in der Beziehung zwischen Patient und Psychotherapeut geprüft werden soll.

Demgegenüber kann ein psychotherapeutisches Gespräch auch von vorne herein stattfinden, ohne dass eine Richtlinien-Psychotherapie geplant ist. Dieser Fall erscheint in der alltäglichen Praxis jedoch nicht so ohne Weiteres plausibel.

Wenn ein*e Patient*in sich von der Einschätzung eines/einer Psychotherapeuten/in wichtige Unterstützung in der Bewältigung einer Krise erhofft, kann das aber zum Beispiel durchaus Anlass zu einem solchen Gespräch „ohne die Absicht einer Psychotherapie“ geben.

Psychotherapeutische Sprechstunde als niedrigschwelliges, ergebnis-offenes Gesprächsangebot

In dieser Hinsicht ist die neue psychotherapeutische Sprechstunde im Gegensatz zur probatorischen Sitzung „ergebnisoffen“. Sie entspricht einem Grundgedanken, der die Psychotherapie als EINES von verschiedenen beratenden, unterstützenden, präventiven oder eben therapeutischen Angeboten des Gesundheitswesens ansieht.

Daher ist es auch folgerichtig, wenn die probatorischen Sitzungen jetzt noch eindeutiger der Einleitung einer Richtlinien-Psychotherapie dienen.

ODA oder DDA? Die diagnostische Abklärung im Erstgespräch

Vor Beginn einer Richtlinien-Psychotherapie und VOR Durchführung einer probatorischen Sitzung muss eine Sprechstunde zur diagnostischen Abklärung erfolgen.

Die Ausrichtung erscheint klar. Ohne diese Verpflichtung würden vermutlich nur wenige Psychotherapeuten den Sinn dieser Maßnahme erkennen.

Die Orientierende Diagnostische Abklärung (ODA) oder Differentialdiagnostische Abklärung (DDA) erfolgte bisher im Rahmen der Probatorik oder während psychotherapeutischer Gespräche (nach EBM-Ziffer 23220).

Seit 2017 müssen Ärzt*innen und psychologische Psychotherapeut*innen, die eine Zulassung zur Richtlinien-Psychotherapie haben, eine solche diagnostische Abklärung im Rahmen der Sprechstunden anbieten.

Ausnahmen für die Vorschaltung einer Sprechstunde durch den/die Psychotherapeut*in gibt es lediglich, wenn zuvor eine stationäre Krankenhausbehandlung oder eine rehabilitative Behandlung wegen einer Diagnose beendet wurde, die für die Inanspruchnahme einer Richtlinien-Psychotherapie erforderlich ist.

Diese Diagnosen sind in §26 der Psychotherapie-Richtlinie definiert.

Wieviele Sprechstunden – und wie lange?

Innerhalb eines Krankheitsfalles dürfen maximal 150 Minuten Sprechstunden pro Patient*in durchgeführt werden. Bei Kindern und Jugendlichen sind es max. 250 Minuten.

Eine Sprechstunde umfasst mindestens 25 Minuten, so dass ein*e Patient*in pro Krankheitsfall maximal sechs Sprechstunden à 25 Minuten (KJP: 10 Termine) oder drei Sprechstunden à 50 Minuten (KJP: 5 Termine) in Anspruch nehmen kann.

Und wie geht es nach der Sprechstunde weiter?

Am Ende der Sprechstunde erfolgt eine schriftliche Rückmeldung an den Patienten.

  • Die Allgemeine Informationen zur Psychotherapie vermittelt das Formblatt PTV10
  • Die Individuelle Patienteninformation zur Ambulanten Psychotherapeutischen Sprechstunde (Formblatt PTV11) dient der Mitteilung einer Diagnose, der empfohlenen Maßnahmen, und ob eine Richtlinien-Psychotherapie indiziert ist. Wenn der Psychotherapeut die Behandlung nicht selbst durchführen wird, vermerkt er dies entsprechend.

Wünscht der/die Patient*in eine Information der Hausärztin, muss er/sie eine Einwilligung dazu schriftlich auf dieser Patient*inneninformation durch Angabe des Hausarztes bzw. der Hausärztin und durch Unterschrift bestätigen.

Für den Fall, dass Sie eine Diagnose stellen, die eine Psychotherapie erforderlich macht, bleibt zu klären, ob Sie

  1. das Verfahren anbieten können, das Sie für angemessen halten
  2. in angemessener Zeit einen Behandlungsplatz anbieten können

Beides lässt sich womöglich bereits im Erstgespräch klären. Wenn Sie jedoch etwas mehr Zeit benötigen, können Sie dafür Ihre*n Patient*in noch einmal einbestellen, und erst in einem zweiten Termin abschließende Empfehlungen aussprechen.

Was bringt die neue Sprechstunde?

Der Gedanke ist im Prinzip nicht verkehrt: einen niedrigschwelligen Zugang für Patient*innen zum psychotherapeutischen Versorgungssystem zu schaffen in Zeiten langer Wartezeiten auf eine Richtlinien-Psychotherapie.

Die Sache hat nur einen Haken. Mit der Verpflichtung auf die Bereitstellung von 100 min. Sprechstunden pro Woche wird der Engpass an Behandlungsplätzen für eine Psychotherapie womöglich nicht geringer, sondern größer.

Meines Erachtens droht die Gefahr, dass Psychotherapeut*innen diese 100 min. nicht zusätzlich zu ihrer derzeitigen Arbeitszeit zur Verfügung stellen.

Damit hätte – im schlimmsten Fall – jede*r Psychotherapeut*in zukünftig zwei Stunden weniger Zeit für Richtlinien-Psychotherapie.

Fachliche Bedenken

Eine Frage, die noch zu klären ist, betrifft die notwendige fachliche Qualifikation für dieses neue, psychotherapeutische Angebot.

Meines Erachtens ist es ein Irrtum, davon auszugehen, dass jemand, der gelernt hat, mit einem Verfahren psychotherapeutisch zu arbeiten, das automatisch für alle Settings (Gruppe, Fokaltherapie, Intervall-Therapie etc.) kann.

Keines der für die vertragspsychotherapeutische Versorgung zugelassenen Verfahren verfügt in ihren bisherigen Ausbildungen über ein Konzept oder eine ausreichende Qualifizierung für dieses neue Sprechstunden-Format.

Modelle, die mir im bisherigen Versorgungssystem einfallen, sind die psychotherapeutische oder medizinische Ambulanz mit ihren diagnostischen und Akut-Behandlungs-Angeboten, und die psychiatrischen Krisen-Dienste.

In der Medizin gibt es einige vielversprechende Entwürfe von möglichen Herangehensweisen, wie z.B. die von Rolf Adler und Willi Hemmeler ausgearbeitete biopsychosoziale Anamnese, die stark am Ärzt*in-Patient*in-Gespräch im klinischen Kontext orientiert ist.

In diesem Konzept wird großer Wert auf die qualifizierte Diagnostik der Beziehungsdynamik gelegt, was aus meiner Sicht für eine Differentialindikation unverzichtbar ist.

Es bleibt abzuwarten, ob mit der bisher vorhandenen, kargen Konzeptualisierung des jetzt geplanten Sprechstundenangebotes ein für Patient*innen und Therapeut*innen befriedigendes Ergebnis erzielt werden kann.

Immerhin sieht der Gesetzgeber eine Evaluierung fünf Jahre nach der Einführung vor.


Haben Sie Fragen zur psychotherapeutischen Sprechstunde oder anderen Neuerungen der Richtlinienreform? Dann stellen Sie sie gerne als Kommentar im Anschluss an diesen Beitrag. Ich antworte Ihnen gerne.

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