Zuhören hilft! Nicht-Wissen und kreative Entwicklung in der Psychotherapie

Zuhören statt kluger Ratschläge

Der ständig schweigende Analytiker – dieses Klischee lässt erst einmal keinen Gedanken an eine kreative Atmosphäre aufkommen, auch wenn es dabei um das Zuhören geht.

Das Bild des Psychoanalytikers, der sich wie ein undurchsichtiger Spiegel verhält, wurde in der Gründungszeit der Psychoanalyse geprägt.

Es hält sich seither beharrlich. Geht es doch auf Sigmund Freud’s gleich lautenden Ratschlag zurück

Dass schon Freud selbst sich an seinen eigenen Rat mit dem Spiegel nicht gehalten hat, können wir bei unzähligen Zeitzeug*innen nachlesen, die bei ihm in Analyse waren oder mit ihm arbeiteten.

Sie erlebten ihn als sehr lebendigen und beteiligten Menschen.

Patient*innen, die eine Psychotherapie machen, berichten oft, wie wohltuend es ist, dass da jemand unvoreingenommen zuhört, ohne schnelle Antworten parat zu haben.

Das sei zwar zu Beginn befremdend und auch anstrengender, aber oft der Auslöser einer neuen, unerwarteten Entwicklung.

Wenn wir zuhören, erforschen wir die Gedanken unserer Patient*innen, aber auch unsere eigenen. Das kann eine sehr heilsame Wirkung entfalten.

Wer forscht, muss sein Wissen immer wieder neu in Frage stellen

Vielleicht hilft uns dieser kleine historische Exkurs in die Verbindung von Forschen und Heilen, um besser zu verstehen, warum es für eine kreative Entwicklung so förderlich sein kann, nicht allzu viel zu wissen, und statt dessen besonders gut zuzuhören.

Das Dasein als Forscher verlangt Vertrauen in die Unsicherheit. Man muss Gefallen finden am Geheimnis und lernen, Zweifel zu kultivieren. Es gibt keinen sichereren Weg, um ein Experiment zu vermasseln, als sich über seinen Ausgang sicher zu sein.Stuart Firestein

Was für Forscher wie Firestein, einen bedeutsamen amerikanischen Neurowissenschaftler, gültig ist, erlebe ich auch in meiner täglichen Praxis.

Je unvoreingenommener, un-wissender ich mich verhalte, desto offener kann ich mich den Mitteilungen meiner Patient*innen zuwenden.

Ich nehme aufmerksamer wahr, was sich in der Beziehung zwischen mir und meinem Gegenüber ereignet, wenn ich nicht so schnell damit beschäftigt bin, das was ich höre, mit dem zu vergleichen, was ich schon weiß.

Ja mehr noch: ich höre selbst den Dingen, die er mir bereits mitgeteilt hat, auf eine Weise zu, als hörte ich sie zum ersten Mal.

Zuhören, als hörten wir das erste Mal

Ist es nicht wichtig, und ein Zeichen von Kompetenz und Wertschätzung, sich an möglichst viel zu erinnern, was mir erzählt wird?

Dem wird vermutlich jeder zustimmen, und etwas Wahres ist ja auch dran.

Aber zunächst möchte ich Ihnen die Vorteile meines Vorgehens verdeutlichen. Dann wird sich schnell herausstellen, dass auch dieses „Nicht-Wissen“ Wertschätzung und Kompetenz ausdrücken kann.

Beides hängt nämlich nicht vom Wissen, sondern von Ihrer inneren Haltung zum Zuhören und zu Ihren Patient*innen ab.

Was das „Zuhören, als sei es das erste Mal“ so hilfreich macht

Natürlich haben Sie im Laufe der Zeit schon Vieles „gehört“, was Ihr*e Patient*in Ihnen mitteilt. Sie sollen sich auch nicht dumm stellen, oder den anderen für dumm verkaufen – als hätten Sie nicht bereits miteinander gesprochen.

Aber haben Sie das Gesagte auch wirklich schon verstanden? Und bleibt Ihr Verständnis  – oder auch die Bedeutung dessen, was Ihnen jemand mitgeteilt hat, immer gleich?

Stuart Firestein, der an der New Yorker Columbia-Universität lehrt, fördert bei seinen Studierenden die Fähigkeit, von dem auszugehen, was sie nicht wissen, statt sich damit zu beschäftigen, was sie bereits wissen. Nur das bringe die Forschung voran, so Firestein.

Ich frage mich zum Beispiel oft, wie es kommt, dass mir jemand etwas zum zweiten Mal erzählt. Sicher, er hat es vergessen. Aber warum?

Was es mit dem Vergessen auf sich hat

Manchmal lohnt es sich, darüber nachzudenken. Es könnte nämlich sein, dass es durchaus sinnvoll ist, etwas ein zweites Mal zu berichten, so als wüssten Sie es noch nicht.

Und genauso sinnvoll kann es sein, auf die gleiche Weise zuzuhören.

Auf der unbewussten Ebene gelten eigene Gesetze. Es gibt kein „schon“ oder „wieder“ im uns vertrauten Sinn. Das Unbewusste ist ohne zeitliche und räumliche Dimension.

Wenn es so ist, dann liegt der Verdacht nahe, dass wir über einen wichtigen Teil der Informationen, die sich uns mitteilen wollen, hinweg gehen werden, wenn wir den Anderen mit der Bemerkung bremsen: „Das haben Sie mir bereits erzählt.“

Wir wollen nicht unhöflich sein und den anderen darauf hinweisen, aber unsere leichte Ungeduld oder Verärgerung macht das offene Zuhören dann ungeheuer schwer.

Nicht-Wissen als Haltung

Ich betrachte Nicht-Wissen als einen Teil meiner professionellen, psychotherapeutischen Denk-Haltung.

Selbstverständlich dürfen Sie von mir erwarten, dass ich über ein exzellentes Wissen verfüge, um kompetent und verantwortungsbewusst zu arbeiten.

So paradox es jedoch klingen mag – ein wichtiger Teil meines Erfahrungs-Wissens hat sich im Umgang mit dieser Haltung des Nicht-Wissens gebildet.

Ich habe gelernt, „zwischen Unsicherheiten, Geheimnissen und Zweifeln auszuharren, ohne [mich] zu einer erregten Suche nach Fakten und Gründen bewegen zu lassen.“ So sagt es John F. Keats, ein englischer Schriftsteller,  in seiner Arbeit über die negative Fähigkeit.

Was hat das mit kreativer Entwicklung zu tun?

Wofür ich mich in meinen Psychotherapien verantwortlich fühle, ist das Schaffen einer Atmosphäre, in der es möglich ist, sich mit einem Mangel an „klugen Gedanken“ zurecht zu finden.

Menschen, die sich durch solche Situationen unter Druck gesetzt fühlen, neigen dazu, Gedanken und Worte zu produzieren, um ihrer eigenen Irritation zu entkommen. Sie möchten vermeiden, dass jemand mitbekommt, wie ratlos und unsicher sie sich fühlen.

Wer Angst hat, geht auf Nummer Sicher, und sucht seltener nach neuen, ungewohnten Lösungen für sein Problem. Angst hemmt die Kreativität eher, als dass es sie fördert.

Wenn Sie sich nun in meine Position hineindenken, und probehalber die Haltung des Nicht-Wissens einnehmen, dann wird Ihre Anwesenheit als jemand, der zunächst einmal „auch keine Ahnung hat“, auf Ihre*n Patient*in verunsichernd wirken.

Wichtig ist, dass Sie ihn dann dazu ermutigen, sich in diesem Moment nicht der vorschnellen Suche nach Begründungen oder Lösungen hinzugeben.

Aber was dann?

Meistens folgt auf diese Anregung dann die Frage „Aber was soll ich denn dann machen?“

Jetzt wird es spannend. Denn damit hat sich Ihr Patient schon aus einer passiv-erduldenden Rolle heraus bewegt, ohne dass Sie ihn in eine aktiv-suchende Rolle gedrängt hätten.

Eine Frage ist zumindest schon einmal Ausdruck eines Interesses.

Ich antworte auf diese Frage gerne mit einer Formulierung wie:

„Vielleicht ist dieser Mangel an passenden Antworten oder schnellen Lösungen ja etwas, aus dem sich neue Gedanken und Einfälle bilden können. Die kommen dann sogar nach einer Zeit des ruhigen, offenen Wartens, in der Platz für weitere Fragen sein kann, wie von selbst.“

In der Regel ermutige ich meine Patient*innen sogar noch dazu, sich nicht davor zu scheuen, selbst die verrücktesten Einfälle, und seien sie auf den ersten Blick auch noch so unpassend, auszusprechen.

Und die kommen dann auch meistens, wenn man gerade an nichts Konkretes denkt.

Eine praktische Anwendung der psychoanalytischen Regel der freien Assoziation

Wenn Sie mit der psychoanalytischen Methode bereits etwas vertraut sind, wird Ihnen die obige Formulierung vielleicht auch schon bekannt vorkommen. Sie lehnt sich an die Anregung an, mit der schon Sigmund Freud seine Patient*innen dazu aufforderte, frei zu assoziieren.

Heute kennen wir eine abgewandelte Form dieser Regel in kreativen Kreisen auch als Brainstorming. Es bedeutet ja nichts anderes als die gezielte Produktion nicht selektierter Einfälle, die erst im Nachhinein auf ihre Verwendbarkeit überprüft werden.

In der psychoanalytischen Anwendung geschieht selbst das ungezielt, ohne den Druck, etwas produzieren zu müssen, ganz entspannt – wie damals bei Archimedes.

Mit Freud in die Badewanne

Der Sage nach sollen der Ausruf „Heureka – ich hab’s gefunden!“ und die Badewanne ja untrennbar verbunden sein.

Wenn Archimedes sich nicht im warmen Wannen-Wasser entspannt hätte, wäre ihm die zentrale Beobachtung entgangen, die ihn auf das nach ihm benannte, physikalische Prinzip brachte.

Auch hier finden wir die Haltung absichtsloser, „nicht-wissender“ Betrachtung.

So war Archimedes mitnichten unwissend. Aber er war auch nicht gerade damit beschäftigt, konzentriert einem wissenschaftlichen Experiment nachzugehen, um seine Antwort zu finden.

Es gibt keine Belege dafür, dass Freud sich mit seinem Prinzip gleich schwebender Aufmerksamkeit und des freien Assoziierens von dieser griechischen Sage inspirieren ließ.

Wohl aber wissen wir, dass sich diese Verbindung unbewusster Aktivität auf Seiten der Patient*innen wie auf Seiten der Psychoanalytiker*innen, als überaus fruchtbar erweist.

Was sich nämlich entwickeln kann, ist

  • ein kreativer Umgang mit Gedanken und Gefühlen
  • die Erfahrung, dass Entwicklung am besten in der Beziehung zum Anderen möglich ist
  • ein wachsendes Vertrauen in die kreative Fähigkeit des Unbewussten, das nicht nur ein Ort der Verdrängung, sondern auch eine Quelle der ungeahnten Möglichkeiten ist.

Damit entsteht eine Arbeitsatmosphäre, die nicht nur im analytischen Setting, sondern in vielen anderen Situationen kreative Entwicklung fördern kann.

Dafür lohnt es sich schon einmal, länger als sonst üblich zuzuhören, statt kluge Ratschläge zu geben.

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