Mitschreiben oder nicht? Vor- und Nachteile von Notizen während psychotherapeutischer Sitzungen

Lesezeit: 9 min.

Mitschreiben in der Psychotherapie

Eine angeregte Diskussion mit Therapeuten entspann sich kürzlich um die Frage, wer während seiner therapeutischen Sitzungen mitschreibt, und wer nicht.

Mitschreiben oder nicht?

    Machen Sie mit bei meiner kleinen Umfrage! Nehmen Sie teil, und erfahren Sie anschließend, wieviele Leser mitschreiben, und wieviele darauf verzichten.

Mitschreiben als Ausdruck von Haltung, Technik und Gefühl

Diejenigen, die während der Sitzungen mitschreiben, hatten das meistens bereits während ihrer Aus- oder Weiterbildung begonnen. Sie konnten sich nur schwer vorstellen, ohne dieses Mitschreiben zu arbeiten. Einige befürchteten, dann Wichtiges aus den Gesprächen mit ihren Patienten zu vergessen.

Auf der anderen Seite betonten diejenigen, die auf eine Mitschrift verzichten, dass sie durch das Mitschreiben abgelenkt würden. Es hindere sie daran, sich auch auf das nicht Gesprochene einzulassen.

Sie würden ihre Aufmerksamkeit oft auf das lenken, was “zwischen den Worten” passiert.

Mir fiel auf, dass die Entscheidung für oder gegen das Mitschreiben viel mit drei unterschiedlichen Aspekten zu tun hat. Sie betrifft

  1. Die therapeutische Haltung
  2. Die therapeutische Technik
  3. Ein Gefühl von Sicherheit bzw. Unsicherheit

Auf diese drei Aspekte werde ich in diesem Beitrag eingehen.

Mitschreiben als Ausdruck einer therapeutischen Haltung

Wer sich während der Sitzung Notizen macht, verwendet etwas, das “zwischen” sich und dem Patienten platziert ist, und in der Beziehungsdynamik eine Funktion „dazwischen“ bekommt.

Beide Beteiligten werden durch die Vewendung von Papier und Stift sowie durch die schreibende Aktivität des Therapeuten beeinflusst.

Mitschreiben signalisiert auch, dass der Therapeut mit der Unterscheidung von “wichtig” und “unwichtig” beschäftigt ist, es sei denn, er stenografiert mit.

Aufmerksame Patienten, die darauf achten, was der Therapeut mitschreibt, können dadurch bewusst oder unbewusst selbst versuchen, herauszufinden, was der Therapeut “hören möchte” – oder zumindest die Phantasie entwickeln, dass es so etwas gibt.

Manche Patienten scheinen es auch als positive Bestätigung zu erleben, dass der Therapeut sich bemüht, das Gesagte nicht verloren gehen zu lassen.

Der Therapeut wiederum wählt während des Schreibens aus

Das geschieht einmal dadurch, dass er das Ausgewählte festhält, dann auch dadurch, dass er während des Schreibens das, was der Patient im gleichen Moment sagt, nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit hört, wie das zuvor Gehörte und Notierte.

Die Notizen lenken die Aufmerksamkeit mitunter wie ein Filter auf das, was danach das Festgehaltene zu bestätigen scheint. Zugleich lenkt das Schreiben selbst vom Gespräch ab. Wir bekommen womöglich nicht mehr alles mit, was gesagt – und nicht gesagt – wird.

Dadurch findet bereits durch das Schreiben ein hoch selektiver Prozess der Bedeutungszuweisung statt, der jedoch während dieses Mitschreibens nur zum Teil reflektiert werden kann – wir sind dann mit dem Schreiben beschäftigt.

Ein intersubjektives Geschehen findet zwar auch mit dem Mitschreibenden statt, dieses Geschehen unterscheidet sich jedoch durch das Schreiben. Neutral gesagt, wird das Mitschreiben zu einer zusätzlichen Variable im therapeutischen Prozess.

Welchen Stellenwert wir diesem Umstand zuschreiben, hängt womöglich auch davon ab, wie und was wir gelernt haben, als Psychotherapeut zu „betreiben“.

Nicht-Mitschreiben als Ausdruck einer therapeutischen Haltung

Wer sich während der Sitzung auf das Zuhören beschränkt, vergisst zwangsläufig einen Teil des Gehörten. Dieses Vergessen ist ebenfalls ein selektiver Prozess – wie das Mitschreiben.

Während des ungestörten Zuhörens ist die Aufmerksamkeit jedoch besser auf den Sprechenden gerichtet, und zugleich selbstreflexiv auf den Zuhörenden. Im Vordergrund steht dabei neben dem Gesagten der Prozess des Geschehens in der Stunde selbst.

Das ist Ausdruck einer therapeutischen Haltung, in der die Präsenz in der Gegenwart des Anderen eine herausragende Rolle spielt.

Der Verzicht auf die Mitschrift signalisiert: “Alles ist zunächst einmal gleich wichtig”.

Es wird während des Gesprächs nicht durch den Akt des Schreibens gewichtet, und die Gedanken, die sich mit der Entscheidung beschäftigen, was ich nun notiere und was nicht, machen einer eher ungerichteten Aufmerksamkeit Platz.

Der Therapeut vermittelt mit dem Verzicht auf das Schreiben meines Erachtens auch, dass er ein Beteiligter im Geschehen zwischen zwei Individuen im Hier und Jetzt ist.

Manche Kritiker des Mitschreibens betonen dabei, dass der Schreibende sich hinter dem Papier verstecke.

Auf dieses Versteck verzichte der Nicht-Schreibende. Er macht sich womöglich angreifbarer, wird anders spürbar im Kontakt, wird unmittelbarer Beteiligter im therapeutischen Geschehen.

Diese Haltung korreliert nach meinem Eindruck auch mit technischen Entscheidungen. Wenn es auch hier sicherlich manche Ausnahmen gibt, sehe ich die Behandlungstechnik des Nicht-Schreibenden näher am „Arbeiten in der Beziehung an der Beziehung“, so wie es für die analytische Psychotherapie mit ihrer Verwendung des Übertragungskonzepts typisch ist.

Wer mitschreibt, kann das selbstverständlich auch als Teil des Beziehungsgeschehens reflektieren, und dem eine dynamische Bedeutung im Übertragungsgeschehen zuweisen.

Je mehr das Schreiben jedoch zu einem Mit-Schreiben wird, und sich nicht nur auf die Anfertigung kurzer Notizen beschränkt, desto eher bekommt es eine eigenständige, dynamisch und technisch wirksame Bedeutung.

Mitschreiben und therapeutische Technik

Meines Erachtens verweist das Mitschreiben eher auf den kognitiven Anteil des Gesprächs, und auf den gesprochenen Inhalt.

Wer mit den analytischen Techniken der Übertragungs- und Gegenübertragungsanalyse arbeitet, kann zwar bei der Mitschrift auch die entsprechenden Vermerke an das Geschriebene anbringen, und damit auch das eigene Denken protokollieren.

Er befindet sich dann jedoch nicht mehr “im Prozess”, sondern er beobachtet ihn aus der Haltung des Schreibenden heraus.

Das hat natürlich Auswirkungen auf das Geschehen selbst. Auch dieser Umstand sendet eine Botschaft an das Gegenüber, und an das eigene Unbewusste.

Wir sind dann Teil des Geschehens als Schreibende, sind Protokollant, Bewertender und Distanzierter.

Wilfred R. Bion spricht von der Rêverie des Analytikers, wenn er sich Gedanken zur gleichschwebenden Aufmerksamkeit in der psychoanalytischen Arbeit macht.

Das ist Ausdruck einer Haltung und Technik zugleich.

Rêverie, die träumerische Verfassung, richtet im Zuhören die Aufmerksamkeit mehr nach Innen als nach Außen.

Die Bedeutung des einzelnen Wortes oder Satzes, den der Patient sagt, tritt zurück, die des Sagens und Sprechens als Ausdruck eines Beziehungsgeschehens tritt in den Vordergrund.

Eine andere Art des Auswählens

Bion spricht auch von “selected facts”, den ausgewählten Tatsachen, wenn er eine andere Form des Auswählens vorschlägt.

Diese ausgewählten Tatsachen ergeben sich nach seiner Theorie nicht aus der bewussten Auswahl, die dem Schreiben verwandt wäre, sondern aus der Technik des Oszillierens zwischen “bewusst” und “unbewusst”, fokalem und afokalem Zuhören.

Beide Zustände sollen sich während der Stunde immer wieder abwechseln, und damit ein dynamisches Wechseln zwischen dem sich Einlassen und dem sich Entfernen ermöglichen.

Das wäre am ehesten zu vergleichen mit der sogenannten „Therapeutischen Ich-Spaltung“, bei der wir einen Teil des Ichs als „Beobachter-Ich“ für die Betrachtung des therapeutischen Geschehens reservieren. (Vielen Dank an meine Kollegin Cveta Doycheva, für den Hinweis)

Das verträgt sich meiner Erfahrung nach schlechter mit dem Schreiben, es sei denn, wir erlernen eine Art zu schreiben, die sich ebenfalls eher als dynamischer, teilweise unbewusster Akt verstehen lässt.

Wir bedienen uns dabei einer Technik des “Geschrieben werdens”.

Therapeutische Techniken, die bewusst das Strukturierende, Lenkende in den Vordergrund stellen, werden nicht so leicht durch das Schreiben gestört.

Sie ziehen aus dem Schreiben möglicherweise sogar einen Vorteil. Schreiben wird (wie etwas weiter oben bereits erwähnt) zu einem aktiven, therapeutisch wirksamen Bestandteil des Geschehens.

Es regt auch den Patienten dazu an, zu strukturieren, sich lenken und leiten zu lassen. Womöglich beginnt der Patient selbst, sich Notizen zu machen.

Schreiben und (Un-)Sicherheit

Manche Therapeuten fühlen sich unsicher, wenn sie während der Sitzungen nichts festhalten, sondern dem Geschehen des Gesprächs überlassen sollen.

Beim Schreiben bekommen Stift und Papier mitunter eine ähnliche Bedeutung wie ein Gegenstand, mit dem wir herumspielen, während wir sprechen.

Er wird zu einer Art Angstmodulator, lässt uns die motorische Abfuhr von Erregung dazu nutzen, um uns in der Situation selbst sicherer zu fühlen.

Schreiben als Distanzierung: das Beispiel des Protokollanten

Wer schreibt, überblickt das Ganze, lenkt und leitet das Geschehen als „Protokollführer“, oder erfasst es zumindest aus der Distanz des Protokollierenden.

Wer in einer Diskussion das Protokoll schreibt, merkt jedoch oft, dass er selbst nicht so beteiligt ist am Geschehen, und auch nicht so beteiligt wird.

Ich arbeite als Dozent und Lehrtherapeut an einem Ausbildungsinstitut, das psychologische und ärztliche Psychotherapeuten in tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Psychotherapie ausbildet.

Dort erlebe ich besonders bei Ausbildungsteilnehmern zu Beginn häufig das Bedürfnis, während der Sitzungen mitzuschreiben.

Schreiben vermittelt Sicherheit. Ich “muss” keine Angst haben, dass ich etwas Wichtiges vergessen könnte – auch wenn das bei näherer Betrachtung nicht zutrifft.

Wer mitschreibt, versäumt währenddessen womöglich das, was der Andere gerade sagt, wie er schaut. Er verpasst kleine, aber bedeutsame “Nebensächlichkeiten”.

Gerade Berufsanfänger neigen dazu, akribisch mitzuschreiben. Sie sagen dann, es sei besonders schwierig, das richtige Maß an Fokussierung zu finden, und halten beim Schreiben „sicherheitshalber“ alles fest.

Was tun?

Ich kenne Situationen, in denen ich es vorteilhaft finde, mir Notizen zu machen. Die sind dann jedoch extrem selektiv, und das Geschriebene ähnelt immer mehr Piktogrammen.

Ein Blitz steht für einen Konflikt, “GÜ” markiert ein Gegenübertragungsphänomen, das ich verspüre. “Ass.” steht für Einfälle, die ich während des Gesprächs habe, die ich jedoch nicht ausspreche.

Ich verwende Mitschriften zum Beispiel in der zweiten Hälfte einer Reihe von Erstgesprächen. Ich trage dann fehlende Informationen zusammen und frage nach Daten und Fakten, die ich mir schlecht merken kann.

Ein Genogramm als „Mitschrift“

Dazu verwende ich gerne Genogramme. Sie bieten mir und dem Patienten eine zusätzliche Möglichkeit, Zusammenhängen und Beziehungsverhältnisse zwischen Familienmitgliedern zu erkennen.

Mit einem Genogramm führe ich eine Visualisierungstechnik ein, die das Schreiben zu einem gemeinsamen Geschehen werden lässt.

Ich schreibe „unter den Augen des Patienten“, wenn ich das Blatt auf den Tisch lege, und für ihn sichtbar einen Stammbaum anfertige und mit seinen Anmerkungen fülle.

Mitunter lasse ich den Patienten die Notizen dann auch selbst anfertigen, während wir sprechen.

Dieses Vorgehen ist in der Regel Teil des Behandlungsbeginns. Im weiteren Verlauf bildet es womöglich einen Bezugspunkt, zu dem sowohl Patient als auch Therapeut zurückkehren können.

Damit wird das äußere Bild jedoch zu einem inneren Bild transformiert, und löst die äußere Struktur als Teil einer inneren Struktur ab. Damit hat es seinen Zweck erfüllt.

Und? Schreibt der Supervisor mit?

In manchen Supervisionen schreibe ich mit. Es fällt mir dabei mitunter leichter, das Geschehen zwischen dem Supervisanden und seinem Patienten zu ordnen.

Dabei betrachte ich die unterschiedlichen Aspekte der vorgestellten Stunde, des vorgestellten Patienten aus der Perspektive des Dritten.

Ich lasse jedoch Stift und Papier sinken, wenn ich spüre, dass sich etwas ereignet, das ich als Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen wahrnehmen möchte.

In allen anderen Situationen ziehe ich es vor, mir keine Notizen zu machen, sondern nach der Sitzung ein kurzes Gedächtnisprotokoll anzufertigen.

Wird eine Behandlung mehrmals vorgestellt, verzichte ich auch ganz darauf, und überlasse das Gesprochene dem Geschehen des Merkens, Wirkens und Vergessens.

Bemerkenswert ist, wieviel von dem, was zur Sprache gekommen ist, wieder aus dem Vergessen auftaucht. Es macht im passenden Moment selbst auf sich aufmerksam.

Es “fällt mir ein” und wird damit vergleichbar bedeutsam wie die Einfälle während der Arbeit mit meinen Patienten.

 

Schreiben Sie einen Kommentar