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Gibt es das überhaupt – DIE Psychoanalyse?

Lesezeit: 5 min.

Lässt sich die Psychoanalyse heute noch als EINE Wissenschaft betrachten?

Die Psychoanalyse

Seit ihrer Gründung vor fast 120 Jahren hat sich die Psychoanalyse wie ein weitläufiges  Gebäude zu einem Komplex mit vielen Seitenflügeln entwickelt.

Wir sprechen mitunter von Freudianern, Kleinianern oder Jungianern, und meinen damit die Vertreter unterschiedlicher Schulen, die nach ihren Begründern benannt sind.

Es lässt sich unschwer vorstellen, dass die Geschichte der Psychoanalyse auch von ausgiebigen Auseinandersetzungen dieser Schulen geprägt ist.

Die theoretischen Ausrichtungen sind dabei vielfältig, und durchziehen alle Schulen und Strömungen noch einmal.

Wir kennen z.B. Selbst- und Ich-psychologische Methoden, objektbeziehungspsychologische Theorien, strukturalistische Modelle oder klassische, triebpsychologische Ansätze, um nur einige von ihnen zu nennen.

Es mag sein, dass dieser Pluralismus DIE Psychoanalyse als psychologischer Theorie an ihrer Kraft geraubt hat. Sie wirkt manchmal wie ein Fluss, der sich in verschiedene Seitenarme aufgliedert, und dadurch an Breite und Strömungsstärke verloren hat.

Wenn wir uns jedoch die Entwicklung anderer Theorien oder Bereiche der Wissenschaften anschauen, dann sehen wir, dass viele von ihnen keinen „Hauptstrom“ mehr besitzen, sondern sich in kleine, „mäandernde“ Seitenarme verästeln.

Pluralismus hat seine Vorteile

In der Vielfalt entwickeln sich spezialisierte Methoden und Modelle, die als Ansätze für besondere Patientengruppen oder Fragestellungen geeignet sind.

  • So entwickelte sich im britischen „Seitenflügel“ (auch länderspezifische Entwicklungen lassen sich unterscheiden) mit dem sogenannten „Mentalization Based Treatment“ ein Behandlungsverfahren, das mittlerweile als eine der „State of the Art“-Behandlungen für Borderline-Störungen weltweit gilt.
  • Oder im französischen Trakt: Dort gilt Jaques Lacan als führender Theoretiker. Seine Arbeiten zur Subjektivität und zur Rolle der Sprache in der Entwicklung des Unbewussten haben Philosophen und Literaturwissenschaftler, Künstler und Therapeuten inspiriert.
  • Vor allem auch Psychoanalytiker, die der Schule Melanie Kleins angehören, haben gezeigt, dass auch schwere psychische Störungen wie Psychosen und autistische Störungen psychotherapeutisch zu behandeln sind.
  • Heute nutzen die meisten Psychoanalytiker die unterschiedlichen Entwicklungen in diesen verschiedenen „Trakten“ der Psychoanalyse (oder auch anderer psychologischer Traditionen) für die individuelle, jeweils angemessene Behandlung ihrer Patienten. Sie finden in der Vielfalt Techniken und Methoden, mit denen sie sich intensiv beschäftigt haben und selbst gut arbeiten können.

Entwicklung braucht Veränderung

Das Bild der Psychoanalyse ist untrennbar mit dem Gesicht ihres Gründers, Sigmund Freuds verbunden.

Er war bis zu seinem Tod darum bemüht, die Zügel der Entwicklung seiner Entdeckungen in der Hand zu behalten.

Zugleich erkannte er jedoch, dass Veränderungen seiner Theorie geradezu lebensnotwendig und unvermeidbar sein würden, sollte die Psychoanalyse nicht über kurz oder lang zu einer toten Angelegenheit erstarren.

Man kann eine solche Vielfalt als Bereicherung und Notwendigkeit erleben, oder auch als die Gefahr einer zunehmenden Beliebigkeit. Das hängt sicherlich davon ab, wie gut jemand in der Theorie und Praxis verschiedener Verfahren ausgebildet ist.

Nur so kann er die Vor- und Nachteile in der Anwendung aus eigener Erfahrung kennen und gezielt die geeigneten Methoden und Techniken verwenden.

Heute finden wir viele mehr Beispiele sogenannter integrativer Theorien und Verfahren. So plausibel und modern sich „integrativ“ anhört, hängt die Qualität dieser Verbindung verschiedener theoretischer und praktischer Ansätze doch entscheidend davon ab, mit welchem Anspruch sie erfolgt.

Multi-Tools sind nicht immer die beste Wahl

Haben Sie schon einmal einen Spitzenkoch bei seiner Arbeit beobachtet? Ein sogenanntes Multi-Tool werden sie in seiner Küche wahrscheinlich vergeblich suchen.

Aus der Kochkunst kennen wir eine fast unüberschaubare Zahl unterschiedlicher Messer für verschiedene Zwecke. Die japanische Küche ist dafür ein herausragendes Beispiel.

Heute diktieren ökonomische Zwänge und politische Entscheidungen eine Vereinheitlichung und Normierung von Behandlungsverfahren. Das geht auf Kosten individuell angepasster Lösungen.

Die damit einhergehende Begrenzung des Angebots unterschiedlicher „Messer“ mag Ihnen als praktizierender Psychotherapeut die „Qual der Wahl“ erleichtern.

Sie geht jedoch auch mit einer bedauernswerten Verarmung einher. So besteht die Gefahr, dass Menschen mit besonderen Behandlungsbedürfnissen mit einem so vereinheitlichten Angebot nicht mehr zu helfen ist.

Das betrifft vor allem Patienten mit schweren psychischen Störungen oder komplexen psychosozialen Problemstellungen. Für die werden auch weiterhin besondere, gelegentlich sogar spezialisierte Angebote notwendig sein.

Dabei die Grenzen der eigenen Kompetenzen zu erkennen, ist besonders wichtig.

Ein Experte kennt seine Grenzen

Eine fundierte Ausbildung vermittelt Wissen und Erfahrung. Ein wichtiges Lernziel ist dabei aber auch, zu wissen, was man nicht kann.

Während meiner psychoanalytischen Ausbildung habe ich in der Vielfalt der unterschiedlichen Schulen und Behandlungstheorien einen großen Vorteil erkannt. In meiner Fachgesellschaft finde ich Vertreter verschiedener Methoden, die zu meinem professionellen Netzwerk zählen.

Zudem bin ich froh, dass es die Verhaltenstherapeuten gibt, und schätze auch meine systemisch arbeitenden Kollegen sehr. Ich weiß, wen ich ansprechen muss, und wer sich mit diesen Methoden besser auskennt als ich.

Die Entwicklung psychologischer Multi-Tools bei gleichzeitig voranschreitender Begrenzung der Wahlmöglichkeiten besorgt mich eher, als dass ich darin eine Chance erkennen kann.

Differentialindikatorische Überlegungen

Ich bevorzuge eine andere Art der Begrenzung: Wenn mich Patienten um Rat fragen, ob ein psychoanalytisches Verfahren für Ihre Bedürfnisse geeignet ist, dann dürfen sie von mir erwarten, dass ich mir anhand ihrer Fragestellung ein genaues Bild davon mache, was ich ihnen anbieten kann.

Dann entscheide ich, welche Behandlungsmöglichkeiten ich für hilfreich halte, und gebe ihnen eine Empfehlung.

Für diese Differentialindikation benötige ich meine fundierte Ausbildung. Sie beinhaltet die Theorie und Anwendung verschiedener psychoanalytischer und verhaltenstherapeutischer Verfahren. Hinzu kommt meine Erfahrung. als Psychotherapeut.

Auch heute lasse ich mich immer wieder von erfahrenen Kollegen beraten, mit denen ich in meiner Arbeitsgemeinschaft und meinen Fachgesellschaften zusammenarbeite.

Und ich tausche mich mit benachbarten oder befreundeten Kollegen darüber aus, für wen z.B. systemische Ansätze oder verhaltenspsychologische Methoden besser geeignet sind.

Bildquellen-Nachweis: Creative Commons Bild-Lizenz, digital cats

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