Welche Psychotherapie soll ich einem Patienten im Erstkontakt empfehlen?
Patienten, die noch keine Entscheidung für ein bestimmtes Psychotherapie-Verfahren getroffen haben, fragen uns dazu um Rat, und erwarten fundierte Aussagen.
Jeder Psychotherapeut hat in seiner Ausbildung auch einen Einblick in die übrigen Verfahren erhalten. Das gilt zumindest theoretisch. In der Praxis sind die Informationslücken jedoch groß. Das betrifft auch die Frage, ob der Patient eher problemorientiert oder lösungsorientiert beraten und behandelt werden muss.
Die Diskussion um geeignete Behandlungsstrategien wird dabei mitunter sehr polarisierend geführt. „Problemorientiert“ klingt in der Sprache mancher Therapeuten wie ein Schimpfwort. Es steht dann für „Probleme wälzen“ und „kein Ende finden“. Damit werde wichtige Zeit vertan, und Geld „verbraten“.
Wer „lösungsorientiert“ arbeitet, wird wiederum von Kritikern gerne als oberflächlich abgewertet. Lösungen ohne Ursachenklärung seien Flickschusterei, oder auf Neu-Deutsch „work-arounds“. Damit würden lediglich Symptome beseitigt und vordergründige Antworten bereitgestellt. Am zugrunde liegenden Probleme ändere das aber nichts.
Die fundierte Problemanalyse steht am Anfang jedes Beratungsprozesses
Keines der bewährten psychotherapeutischen Verfahren kommt ohne eingehende Problemanalyse aus. Woran sollte sich sonst die Psychotherapie orientieren? Die nachfolgende Bewertung dieser Probleme wird der Dreh- und Angelpunkt psychotherapeutischer Sprechstunden sein.
Sie soll eine Differentialdiagnose ergeben, die eine grundlegende psychische Erkrankung definiert, und eine Differential-Indikation ermöglichen. Damit kann der Psychotherapeut das aus seiner Sicht am besten geeignete Behandlungsverfahren empfehlen.
Während es bei einfachen, meist linearen Ursache-Wirkungs-Beziehungen sehr leicht fallen wird, den Ursprung einer problematischen Entwicklung zu identifizieren, gelingt das bei komplexeren, nicht-linearen Zusammenhängen nicht so einfach.
Manche Befürworter lösungsorientierter Verfahren befürchten in diesem Fall eine Fixierung auf das Problem. Sie betonen die hemmende Wirkung, die eine auf die problematische Entwicklung fokussierende Betrachtungsweise haben könnte. Das behindere die Fähigkeit, konstruktive Veränderungen zu erzielen.
Stattdessen sei es empfehlenswert, den Blick auf die Wahl geeigneter Lösungsstrategien zu richten. Fragen wie „wann war dieses Problem einmal weniger stark vorhanden“ führten zur raschen Veränderung, wenn es gelinge, Faktoren zu identifizieren, die „damals“ anders gewesen seien. Man brauche diese Faktoren dann noch wiederherzustellen, und das Problem sei gelöst.
Das die Lösung eines Problems aber auch durch unbewusste Prozesse behindert werden kann, und die Orientierung an diesen problematischen Zusammenhängen ein genaueres Verständnis der bisher gescheiterten Lösungsansätze ermöglichen könnte, fällt dann mitunter erst auf, wenn es trotz gemeinsamer Bemühungen nicht möglich ist, diese „Faktoren“ wieder wirksam werden zu lassen.
Aber was ist eigentlich „problemorientiert“?
Gelegentlich werden mit diesem Ausdruck psychodynamische Verfahren beschrieben, die sich eingehender mit problematischen Zusammenhängen beschäftigen, als es andere Verfahren tun.
Die genaue Analyse sogenannter „dysfunktionaler“ Konfliktlösungsmuster bzw. Bewältigungsstrategien soll zum Beispiel verhindern, dass neurotische, unbewusste Hemmnisse, die sich einer angemesseneren, „funktionaleren“ Herangehensweise entgegenstellen, immer wieder in die gleichen Sackgassen führen.
Bevor wir Lösungen finden können, müssen wir verstehen, was eigentlich „das Problem“ ist. Das kann zunächst einmal unsere Hoffnung auf eine schnelle Lösung trüben. So erleben wir es, wenn wir die Dynamik unbewusster Mechanismen in unsere Überlegungen einbeziehen.
Erst wenn wir die eigentlichen Ursachen erkannt und verstanden haben, können wir mit Psychotherapie dauerhafte Veränderungen erreichen. Das ist nicht unbedingt abhängig von der therapeutischen Schule, aber es ist in jedem Fall abhängig von der Betrachtungsweise von „Lösung“ und „Problem“.
Was hilft uns, für „das Problem“ geeignete Lösungen zu wählen?
Als Kriterium für die Auswahl einer geeigneten Behandlungsstrategie ist m.E. entscheidend, für welche Fragestellung welches Behandlungsverfahren geeignet ist.
Dafür brauchen Sie einen differenzierten Einblick in die persönliche Situation ihres Patienten.
Den gewinnen Sie durch
- die eingehende Berücksichtigung der aktuellen Fragestellung, mit der Ihr Patient Ihre Behandlung aufsucht
- die Identifizierung
- sozialer und gesellschaftlicher
- intellektueller
- emotionaler
- ich-struktureller und
- körperlicher Ursachen des Problems
- die Untersuchung der jeweiligen Systemvoraussetzungen in der Familie bzw. dem Umfeld, in dem Ihr Patient aufgewachsen ist, und aktuell lebt
- die Analyse der zur Verfügung stehenden
- sozialen und gesellschaftlichen
- intellektuellen
- emotionalen
- ich-strukturellen und
- körperlichen Ressourcen des Patienten.
Dieser Einblick ermöglicht uns, die Auswahl auf Methoden einzugrenzen, die auf die Probleme und Ressourcen DIESES Patienten zugeschnitten sind.
Weder eine Fixierung auf Schwierigkeiten, noch das vorschnelle Erarbeiten von Lösungen ist der Sache dienlich.
Je weniger der Behandler selbst davon abhängig ist, neue Patienten zu gewinnen, desto offener wird er dem Rat Suchenden gegebenenfalls auch einen anderen Ansatz empfehlen, als den eigenen.
Je breiter der theoretische und vor allem der Erfahrungs-Hintergrund des Psychotherapeuten ist, desto eher wird der Patient von ihm erwarten können, dass er ihm die Vorteile der verschiedenen Methoden erklärt, und auch offen deren Einschränkungen nennen wird.
Neben dem Lösungsansatz und dem Therapieverfahren wird dann auch die Frage nach der Länge einer Psychotherapie zu beantworten sein. Die Empfehlung einer Langzeit-Therapie oder einer Kurzzeit-Therapie richtet sich neben persönlichen Präferenzen des Patienten auch nach der Komplexität der zugrunde liegenden Störung und nach den zur Verfügung stehenden Ressourcen des Patienten.
Was wirkt, hat auch Nebenwirkungen
Auch in psychotherapeutischen Prozessen gilt dieser Grundsatz.
Ob diese Nebenwirkungen rechtzeitig bemerkt werden und wie ihnen dann entgegengewirkt werden kann, bevor Schäden entstehen, hängt meiner Erfahrung nach davon ab,
- wie vertraut der betreffende Psychotherapeut mit seinem Verfahren ist,
- wie aufmerksam er sich auftauchenden Problemen zuwendet (damit bekommt „Problemorientierung“ noch eine neue Dimension) und
- ob er neben der Berufserfahrung in der konkreten Behandlungspraxis auch
- über ausreichende Selbsterfahrung verfügt
- sich mit Kollegen in Intervisionsgruppen berät
- sich kontinuierlich weiterbildet und
- seine Arbeit supervidieren lässt.
Qualitätssicherung orientiert sich an problematischen Prozessen
Zu schnell gerät im Eifer des Gefechts nicht nur das Ziel aus den Augen, sondern eben auch der Prozess selbst. Neben einer gründlichen Selbstreflexion gehört das „Nachdenken über das, was wir tun“ nicht nur ins Zentrum jeder Psychotherapie, sondern auch zum Selbstverständnis jedes professionellen Psychotherapeuten.
Dabei gehört die Orientierung an kritischen Verläufen und schwierigen Abschlüssen zur verantwortungsvollen Qualitätssicherung in der Praxis des Therapeuten.
Dazu wird in zunehmendem Maße auch die Frage gehören, welches Behandlungsverfahren geeigneter gewesen wäre. Dann kann sich die Frage, ob problemorientiert oder lösungsorientiert, als Kriterium für Ihre Wahl differenzierter betrachten lassen.
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